Schöne Frau

Der Mann sitzt in seinem gewohnten Café und trinkt seinen üblichen Kaffee. Der Kaffee ist bitter - wie immer.
Der Mann schaut in die Runde. Er erblickt eine blonde Frau, sie ist ausserordentlich hübsch. Sogleich zuckt er zusammen, blickt rasch zur Seite.
Warum hat er weggeblickt? Er ist erschrocken.
Die Frau  - er schaut nochmals kurz hin - ist bezaubernd, durch und durch. Vielleicht 30 Jahre alt, die Haut rein wie in der Werbung, die Lippen rot, doch nicht von Lippenstift. Sie sind erleuchtet von der Jugend und vom erfüllten Leben.
Die Figur hat der Mann noch nicht einmal aufgenommen. Er hat sich gezwunden wegzuschauen, weil er instinktiv gewusst hat, dass diese Frau seiner alten Freundin zu sehr gleicht. Auch sie hatte kurze Haare, helle wache Augen.
Der Mann hat nur wenig gesehen, doch bereits zuviel. Alte Gefühle kochen wieder auf. Der Mann zwingt seinen Blick fort, will nicht mehr sehen.

Und doch.  Der Mann muss wieder sehen.

Er blickt hin.

Die Frau schiebt sich grosse Stücke eines Kuchens mit Schlagrahm in den Mund. Sie isst vehement, fast gierig. Lebensfroh.
Der Mann will sehen und doch nicht. Er weiss, er könnte sich verlieben, hat sich ja schon verliebt. Er weiss, er könnte sich verletzen.
Ein rascher Seitenblick auf die Beine.
Schöne lange Beine.
Feste sportliche Oberschenkel. Genau so muss es sein.
Jetzt steht die Frau sogar auf, geht vor dem Mann vorbei, holt sich eine Zeitung, spaziert wieder zurück.
Weil sie so vorbeigeht, getraut sich der Mann ein wenig länger schauen.
Die Grösse stimmt. Wie bei seiner alten Freundin.
Die Kleidung stimmt. Wie bei seiner alten Freundin.
Rasch zwingt sich der Mann die Tasse zu heben. Er will nicht mehr sehen, keine alten neuen Gefühle mehr entwickeln.
Es beginnt im Sturm und endet doch nur im Streit, denkt er. Lieber gar nicht erst die Segel setzen.
Der Mann zwingt sich wegzuschauen. Er beugt sich vor, greift die Tasse. Er nimmt einen Schluck.
Der Kaffee ist bitter.

Wie immer.

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