New York hin und zurück

Der Mann steckt tief in seinem Kellerabteil. Er hat sich in alte gestapelte Kisten hinein gewühlt. Er will die Chance nutzen und viel zu lange aufbewahrte Dinge vor die Haustüre bringen. Es ist Gratis-Sperrgut-Abfuhr.
Der Mann hat sich schon weit vorgekämpft. Die ersten Kisten sind durchsucht. Er hat sie vor das Kellerabteil gestellt. Dort liegen sie, aufgebrochen wie Kisten von Piraten.

Es gibt keinen Schatz.

Es sind alte, halb-kaputte Dinge, die der Mann findet. Nutzlose Dinge, doch immer noch behaftet mit einem speziellen Wert. Darum liegen sie im Keller. Man braucht den Mist nicht mehr und kann sich doch nicht trennen. Noch kein einziges Teil ist als Schrott erkannt und aussortiert.
Die nächste Kiste ist schwer. Vielleicht ein altes Küchengerät, das man endlich wegwerfen kann. Eine ganze Kiste weniger, das gäbe Platz - für Neues. Der Mann öffnet die Kiste.

Fotos aus New York.

Der Schatzgräber setzt sich, schaut die alten Fotos wieder durch, wie immer, wenn er diese Kiste öffnet alle sieben Jahre. Es sind mehr als fünftausend Stück. Viele Fotographien sind banal und gleichen allen andern. Nur wenige haben ein spezielles Etwas, entfalten einen magischen Moment auf 10 x 15 cm.
Der Mann sitzt und blättert diese Fotos durch. Was auf den Bildern ist - Abendstimmungen in New York, Nacht, Gebäude, Taxis - ist ihm so weit weg wie diese Stadt und diese Zeit selbst.
Es dauert lange, bis der Mann alle Fotos durchgeschaut hat. Irgendwann merkt er, dass es ihn friert. Rasch legt er alle Fotos in die Kiste zurück, verschliesst sie sorgfältig.
Dann nimmt er sich die nächste Kiste vor, findet weitere Erinnerungen.
Als er fertig ist, stapelt er die Kisten wieder hoch bin unter die Kellerdecke. Die Türme sehen aus wie Wolkenkratzer. Es gibt kaum noch Platz zum Stehen.
Dann verlässt der Mann das Abteil, schliesst es ab.
Er geht die Treppe hoch und hinaus aus dem Keller.

Er löscht das Licht.





Blick vom World Trade Center, New York City, 1994



















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Eisblumenbad

Der Mann schiebt seinen Körper unter die Bettdecke. Sein Bauch, seine Oberschenkel, der Kopf vermählen sich mit der weichen Matratze. Er streckt sich wie ein Schwimmer. Mit den Armen streicht er unter dem grandiosen Kissen durch.

20'000 Meilen unter dem Meer.
 
Die Arme gehen auseinander. Die linke Hand verfängt sich in einem Teddybär.
Sorgfältig tastet der Mann sich weiter. Da liegt noch einer. Und noch einen dritten bekommt er zu fassen.
Diese Teddys liegen seit je in seinem Bett.Der Mann zieht sie zu sich. Plüsch. Dreimal.
Er legt sie vor sein Gesicht, baut sich eine Schutzburg gegen Kälte - und gegen Einsamkeit. Dahinter fühlt er sich sicher.

Er erinnert sich.

Seine Freundin hatte immer in eisig kaltem Zimmer geschlafen. So liebte sie es. Versteckt unter der Bettdecke, nur das Gesicht frei, die Haare unter einer Zipfelmütze. An den Scheiben Frostblumen.
Er hingegen war jeweils verfroren, wenn er dort übernachten durfte. Immer lag sein Rücken frei, oder seine langen Beine. Er fühlte sich, als wache er an der Beresina.
Der Mann zieht die Teddys noch näher zu sich, legt sie um seinen Kopf.

Eine Bärenfellmütze für einen vergessenen Soldaten.





Schlafen im Washington Square Park, NYC, 1993

















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Eisbrecher vor Teneriffa

Der Mann hatte auf das Thermometer vor seinem Küchenfester geschaut. Der blaue Strich war verkümmert gewesen und endete bei Minus 5. Also hatte er sich besonders warm angezogen.
Nun fährt er mit dem Fahrrad in die Stadt. Die Hände stecken in fetten Handschuhen. Die Finger sind gewärmt, aber nach den Handgelenken liegt ein Stück Haut frei. Die Ärmel seiner Jacke sind zu kurz. Der Rest seines Körpers wiederum ist gut eingepackt. Nur noch die Fussgelenke frieren ein, trotzdem er mit den Füssen auf die Pedale stampft - und das Gesicht natürlich. Es liegt im eisigen Fahrtwind wie der Bug eines Eisbrechers in der Ladogasee. 
Also saugt der Mann seinen Kopf tief ein in den Kragen der Jacke, zieht die Mütze noch schärfer ans Gesicht. Zischend rupft er die Nase hoch. Der Mund füllt sich mit Schleim sogleich. Nur kurz behält er ihn zurück. Dann spuckt er aus. Dann schnieft er erneut.
Es ist eine kurze Fahrt in die Stadt. Der Mann wird bald wieder im Warmen sein, sich lösen von seinen Winterhüllen, in einem warmen Sessel sich strecken, als läge er am Strand in Teneriffa.
Aber noch radelt er durch die bittere Kälte, stechen ihm Stricknadeln ins Gesicht. Trotzdem fühlt er sich richtig wohl
Er weiss nicht. Macht ihn die Erwartung an die Wärme glücklich.
Oder ist sein Glück, dass er ist und hier ein Etwas spürt.

Ein Irgendetwas.

Immerhin





NYPD, 1994


















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Ein gutes Leben

Der Mann sagt: „Ich lebe eigentlich nicht schlecht mit meinem gebrochenen Herzen.“
„Nicht schlecht? Was meinst du genau damit?“, fragt ihn sein Freund.
Also muss der Mann seine Gefühle präzisieren. Er macht das akkurat und erklärt: „Also, mein Herz ist gebrochen.“
„Ja.“
„Seit mehr als sieben Jahren.“
„Das habe ich vermutet“, knickt sein Freund seinen Oberkörper ab. „Du bist nie über Chantal hinweg gekommen.“
„Eben. Ein gebrochenes Herz.“
„Aber du lebst jetzt endlich wieder richtig gut“, stellt der Freund fest.
„Nein, nein. Das gerade nicht. Ich lebe nicht gut.“
„Also lebst du schlecht?“
Der Mann schüttelt den Kopf. „Ich lebe nicht schlecht.“
„Also doch gut.“
„Nein, hör zu. Ich lebe mit einem gebrochenen Herzen. Das ist nicht gut, aber heute …“
„... nach sieben Jahren …“
„... nach diesen sieben langen Jahren …“
Der Andere nickt mit zusammengepressten Lippen.
„… da lebe ich eigentlich nicht schlecht mit diesem Herzen. Ich habe mich daran gewöhnt. Das Ding funktioniert, hält mich am Leben.“
„Immerhin. Das ist doch was.“
„Ja. Ein Kunstherz könnte es nicht besser tun.“
„Du lebst.“
„Tatsächlich“, sagt der Mann und denkt: Ich bin am Leben. Mein Herz ist tot und pumpt doch. Die Schmerzen sind ewig da, jedoch irgendwie erträglich. Ich stehe auf, mache irgendetwas, gehe wieder schlafen und dann von vorn. „Ich lebe, immerhin!“
„Du lebst noch.“
„Eigentlich nicht schlecht“, sagt der Mann und bestellt noch einen Espresso.



Staten Island Ferry, NYC, 1993


























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Einmal Glück und zurück

Der Mann sitzt in der Unimensa. Vom Alter her könnte er der Vater der Studierenden sein. Von der sozialen Stellung her unterscheidet er sich hingegen kaum von ihnen. Er ist voller grosser Träume, weiss, dass sein grosses Glück bald kommen wird und hat kaum Geld im Sack. Daher sitzt er dort. Er will mal wieder seinen Magen füllen.
Zwei Tischreihen weiter sitzt eine Studentin mit schulterlangem Schneewittchenhaar. Sie flirtet mit dem Mann, tatsächlich. Elegant streift sie mit ihren Porzellanhänden durch die Haarpracht, wirft sie auf, so dass sie wie ein Hermelinmantel über die Schultern fallen. Sie öffnet den Mund dabei voll Sehnsucht, schaut hin zum Mann, ob er auch sieht.
Der Mann ist überrascht von den Signalen, vom Blinzeln der Augen wie denen von Bambi. Wie die junge Frau ihren Körper scheinbar absichtslos biegt, damit sie zwischen den Reihen hindurch zu ihm blicken kann.
„Was willst du von mir?“, fragt sich der Mann.
Die Frau antwortet nicht und antwortet doch deutlich. Blickt zu ihm hin, dann ab, dann schon wieder auf.
„Ich bin kein Professor“, lächelt der Mann. „Bei mir ist nichts zu holen.“ Er sollte die Schultern heben und den Kopf leise schütteln, doch er lächelt nur. Er will den Zauber noch nicht brechen.
Die junge Frau plaudert wieder mit ihren Kolleginnen, lacht mit, und blickt wieder her, ob er ja gesehen habe, wie ihre Lippen tanzen.
Der Mann kann nicht anders. Sein Blick bleibt auf dem Mädchen haften. Er schaut interessiert.
Die junge Frau merkt es, errötet leicht, lächelt jetzt als wie beschämt und schaut dennoch bewusst von Neuem.
Jetzt will der Mann auch lächeln. Ein solches Glück erregt und macht stolz zugleich.
Die Frau schielt nun - irgendwie. Ihr Blick schiesst scharf am Mann vorbei und bewegt sich immer weiter weg vom Kopf des Mannes, zielt hinter ihn, neben ihn, direkt auf den jungen Athleten, der hinter dem Mann gesessen war und jetzt aufgestanden ist.
Selbstbewusst, mit leicht arrogantem Lächeln schiebt dieser Adonis seine Jugend hin zu dieser Frau. Er hat sie fest im Griff.
Deren Bäckchen beginnen zu glühen, die Augen weiten sich. Hastig stösst sie ihre Nachbarin an, Achtung, er kommt. Jetzt! Was soll ich tun?

Dem Mann indes fällt sein dummes Lächeln in die braune Sosse vom Gehackten. Dort liegt es verschmutzt verdreckt und schaut ihn bitter an.



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Sonnenblumenfreundschaft

Der Mann ist einsam. Also denkt er an seine Freundinnen, die er einmal hatte - oder auch nicht.  
Die Erinnerungen sind wie Blumen in einem grandiosen Blumenstrauss. Darin ragt eine Sonnenblume ganz besonders hervor. Sie scheint ewig frisch, ist immer stark. Es ist seine alte Liebe, vielleicht seine einzig wahre. Der Mann sieht diese prachtvolle Blume und erinnert sich.

„Liebst du mich?“
„Ja, ich liebe dich“, antwortete er.
„Wie fest liebst du mich?“
„Ich liebe dich, wie nichts auf der Welt.“
„Nur so wenig? Das ist nicht genug.“
„Plus der Himmel und der Mond und die Sterne?“
„Die Sonne auch?“
„Die Sonne, ja, und noch viel mehr.“
„Ich liebe dich."

Andere Blumen sind kleiner, auch schön, doch kommen sie nicht an die Kraft und Grandezza der Sonnenblume heran. Dennoch tragen sie hübsche Farben.

„Ich mag dich sehr.“
„Ich auch, das weisst du doch.“
„Wirklich, ich mag dich sehr....nur ....“
„Was nur?“, fragte er.
„Nun, das ist, wie soll ich sagen?“
„Sag schon, was du sagen musst.“

Wieder andere Blumen sind bereits dürr, ausgebleicht, matschig irgendwie.

„Wir passen nicht zusammen.“
„Wie meinst du das?“
„Du passt mir nicht.“
„Ich verstehe nicht.“ Er schüttelt den Kopf.
„Du gefällst mir einfach nicht.“
„Wie … wie soll ich das verstehen?“
„Du bist nicht sexy, so, jetzt weißt du es.“

Eine winzige Blüte ist das nur. Doch immer wenn er solche Blumen aussortieren will aus der Erinnerung, blühen sie erneut auf wie Wüstenblumen nach frischem Regen und die stumpfen Stacheln stechen wieder.





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Was tun gegen Kopfschmerzen?

Der Mann musste zum Arzt. Er kommt gleich dran.
„Was fehlt Ihnen?“, fragt die Gestalt im weissen Kittel.
Der Mann sagt nichts, sitzt einfach da, versucht sich zu erinnern.
„Sie sehen erschöpft aus.“
Ja, denkt der Mann. Erschöpft.
„Haben Sie Kopfschmerzen?“
Der Kopf schmerzt durchaus, aber habe ich Kopfschmerzen?, fragt sich der Mann.
„Wo schmerzt es denn genau?“
Stockend beginnt der Mann zu erzählen. „Ich ... habe geschrieben.“
Der Arzt nickt. Er schaut neutral. Dann nickt er nochmals, lächelt milde. „Geschrieben also?“
„Zuviel geschrieben.“
„Sie haben also zuviel geschrieben.“
Ja, zuviel und doch zuwenig. Es gibt so viel zu sagen und doch ist alles nichts. „Wissen Sie …“, beginnt der Mann. Dann stockt er wieder.
„Ja?“, sagt der Arzt und blickt von unten auf.
„Ich habe viel zuviel geschrieben und doch zuwenig.“
„Hhm, hm“, sagt der Arzt und nimmt seinen Stift und seinen Block und schreibt.

Später, in der Apotheke, schaut die Verkäuferin auf das Rezept, dann schaut sie hoch, dann schaut sie wieder auf den Zettel. „Hhm, hm“, sagt sie zum Mann und dreht sich weg.























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Der tiefe Schlaf


Der Mann hat wieder ewig lange geschlafen. Am Morgen liegt er halb wach, halb tot in einer Zwischenwelt. Da kommen ihm erneut die weisesten Gedanken.
„Es gibt ein Innen und ein Aussen. Es gibt die Welt und mich“, hört er sich selber reden.
„Das hast du gestern schon bedacht“, stellt eine Stimme fest.
„Ja.“
„Aber es gibt auch den Anderen, nicht wahr?“
„Jawohl. Und der hat auch ein Innen und ein Aussen.“
„Das ist richtig.“
„Richtig und noch viel mehr. Auch der Andere kann die Welt nicht begreifen, bleibt einsam in sich selbst. Ausgesetzt der Welt und doch allein.“
„Eine weise Erkenntnis“, lobt die Stimme, der Mann sich selbst. Dann sinkt er wieder tiefer in den Schlaf, als rutsche er einen Abhang in eine Höhle hinunter.
Später - er weiss nicht, wie lange es gedauert hat - wird er hell. Er spürt das Bettlaken in seinen Fingerspitzen. Seine Zunge fährt fahrig durch den Mund, findet Halt an seinen Vorderzähnen. Seine Narbe am Knie beginnt zu schmerzen. Er tastet sich hin zu dieser welken Blüte, streichelt sie, als wolle er sein Verständnis ausdrücken, dass sie schmerzen müsse. Dann gehen ihm erneut Gedanken an die Welt durch den Kopf.
„Wenn der Andere die Welt auch nicht erkennen kann, also, wenn nur sein eigenes Inneres letztlich ihm begreiflich ist …“
„Was ist dann?“
„Dann ist auch für mich nur dieses Andere real.“
„Nur das Innere von dir und von dem Anderen sind real. Eine gewagte These.“
„Ja, gewagt. Doch denk’ einmal darüber nach. Ich bin ich. Das ist der andere auch. Nur wenn wir uns zusammen tun, kann meine Welt sich erweitern.“
„Du meinst also, dass …“
„Ja, die Welt aussen ist mir unbegreiflich. Aber den Anderen kann ich kennenlernen, muss ihn kennenlernen, wenn ich meine Welt erweitern will.“
„Es geht immer um den Anderen.“
„Ja, das ist richtig. Nicht ich bin wichtig. Der andere erst erschliesst mir Welt.“
„Es geht immer um den Anderen.“
„Genau.“
„Das hat Buber schon gesagt.“
„Martin Buber, der Philosoph?“
„Genau.“
„Genau hat er gesagt?“
„Nicht genau. Es geht immer um den Anderen. Das hat er gesagt.“
„Also um mich.“
„Schlaf weiter!“


New York City, 1993

















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Die Welt ist hart ist gut

Der Mann hat ewig lange geschlafen. Nun steigt er in die neue Woche wie in einen kalten feuchten Schlafsack.
Das Aufstehen macht Mühe. Die Beine sind lahm, kommen gegen die dicke Wattierung kaum an, verheddern sich im Sack. Die Arme sind schwer, eingezwängt im zu engen Kleid.
Das Gesicht ist zu. Augen, Mund geschlossen. Nur die Nase saugt wimmernd kühle Luft ein, begräbt sie knapp in der Lunge, stösst sie kaum erwärmt wieder aus.
„Ich bin Teil im Ganzen“, denkt der Mann. „Ein Atom im Kosmos.“
„Nicht ganz“, antwortet jemand.
„Hhm“, denkt der Mann, atmet endlich stärker ein, atmet aus. Schliesslich geht er stakelig in die Küche, lässt sich auf einen Stuhl fallen. 
 Dann denkt er nach. „Was meinst du ganz genau?“
Der Andere sagt es ihm. „Wir sind Menschen, ja?“
Der Mann nickt.
„Wir sind Teil des Kosmos.“
Der Mann bestätigt auch das.
„Und dennoch ist nicht alles eins. Es gibt ein Aussen und ein Innen.“
Der Mann hebt den Kopf, hält ihn schräg.
„Das Aussen ist immer da. Meist ist es Sturm und Not, Gewalt und Regen, Schnee.“

Schneesturm in New York, 1992

       „Krieg.“
„Ja, Krieg.“
„Die Welt ist einfach hart ...“
„Nun, da irrst du dich eben“, sagt die Stimme und fährt schnell fort. „Die Welt aussen ist so, wie sie eben ist, aber nur du machst sie zu dem, was sie für dich ist.“
„Aussen und Innen“, denkt der Mann dumpf. Dann begreift er. „Die Welt wird von mir selbst gemacht. Ich mache sie zu dem, wie ich sie empfinde.“
„Und noch was …“
Der Mann hört nicht mehr hin. Er hat begriffen jetzt. „Mein Innen ist völlig unabhängig von der Welt aussen. Ich bin ein Mensch und mein Innerstes ist letztlich unberührt von der Welt.“
„Du stehst zwar im Austausch mit der …“
„Ja, ich stehe im Austausch mit der Welt. Aber mein Innerstes, mein Wesen an sich, wird durch die Welt da draussen nicht verändert. Ich bin ich.“
„Bravo“, lobt die Stimme noch, aber der Mann hört schon nicht mehr. Er sitzt das erste Mal seit ewigen Zeiten mit einem Lächeln im Gesicht da. 

Dann macht er Kaffee.

Dann trinkt er Kaffee.

Dann steht er auf.


Ein wenig leichter.




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Leute reden hören

Der Mann sitzt im Bistro am Bahnhof. Er hört die Leute miteinander reden.
Die etwa 60 Jahre alte Frau, die wie ein 50-jähriger Architekt gekleidet ist, erzählt von Leberkrebs, oder so. Ihr Gesicht - Hornbrille auf spitzer Nase, kurze graue stachelige Haare - bleibt starr dabei.
Das junge Girl quatscht über ihren Marco und wie er fremdgegangen ist und dass sie das jetzt endgültig satt hat und nicht mehr toleriert und jetzt Dampf machen wird und und und sowieso. Dabei schaut sie hinter ihren, mit schriller Leuchtfarbe angemalten, Augendeckeln dumm hervor. Die blutroten Lippen hängen schief im Gesicht, wie eine klaffende Wunde von einem Streifschuss.
An der Stehbar streichelt ein Wachmann von Protectas seinen Schäferhund und beeindruckt seinen Kumpel mit Wissen zu den Details des Anmeldeverfahrens für das Grenzwachtkorps. Der erzählt vom neuen Kastenwagen.
Die Hochbürgerliche zieht ihr Jackett stramm und wischt sich Fuseln vom Ärmel. Sie sagt nichts. Ihre Freundin erwidert nichts.
Die Bedienung redet, was sie muss.
Dann kommt das Getränk.
An der Stehbar nimmt jetzt ein Zugsleiter seinen Espresso. „Die Ferien liegen wieder saumässig schlecht.“ Der junge Kollege hat seinen Deckel aufbehalten. Er nickt, weil er muss.
Im Fernsehen spricht der Moderator vom Wetter. „Es regnet überall, aber bald schon ….“ Er lächelt.
Der Mann nimmt noch einen Schluck. Bereits ist das Tässchen leer.
Er bestellt nochmals einen Espresso.
Er hat niemanden zum Reden.






New York City, 1993



















 
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Das Glück von Anselm Grün

Der Mann fragt sich, ob in zehn Jahren noch irgendjemand die Glücksbücher von Anselm Grün lesen wird?
 Niemand wird in zehn Jahren die Bücher von Anselm Grün noch lesen.
 "Und deinen Müll? Denkst du, dass irgendjemand noch deinen Mist lesen wird?"
"Oh, ja, Herr Grün, das denke ich."
"Wenn du dir da mal nur nicht sicher bist."
"Bin ich nicht, nicht wirklich. Aber ich bin sicher, dass deine Glücksbücher dann schon längst verstaubt sind - oder gleich verstampft."
"Immerhin habe ich dann Millionen gescheffelt."
"Gratuliere. Darum geht es ja beim Glück, nicht wahr. Millionen scheffeln."
Anselm Grün hebt den Kopf, verschränkt die Arme und schliesst die Augen halb. "Sie sind nur eifersüchtig."
Dem Mann macht das nichts aus. Ja, eifersüchtig ist er. Doch das ist immerhin ein wichtiges, ein ehrliches Gefühl. Das hat Bestand. Eine Glücksträhne? Die kommt und bleibt an dir hängen wie eine fiebrige Erkältung und ist doch bald vorbei. Das Glück? Ein VW Golf. Der veraltet rasch und rostet. "Meine Literatur ist ewig. Ich schreibe über den Menschen an sich. Über Melancholie.“
„Da bleibst du ewig arm.“
„Ja. Ich bleibe arm bis an mein Lebensende - und melancholisch.“
„Und eifersüchtig.“
„Ja, eifersüchtig. Aber musst du unbedingt das letzte Wort haben?“
„Ja.“


New York City, 1993, Blick Richtung New Jersey




















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Dinge betrachten

Der Mann sitzt im Café und schaut auf die Trams, wie sie kommen, wie sie halten, wie sie weiterfahren. Die einen sind lang. Doppelkompositionen. Die anderen geringer. Alle sind grün.
Die Nummer 8 kommt. Leise zischend hält sie. Quietschend öffnen sich die Türen. Passagiere steigen aus, neue Fahrgäste drängeln schon hinein. Die Türen klacken zu. Die Tram fährt ab.
Der Mann weiss, die 8 fährt die längste Strecke auf dem Netz. Noch mehr als 30 Minuten wird sie brauchen bis zur Endstation. Dort wird sie stehen wie tot und doch nur warten. Nicht lange, nur 12 Minuten - exakt. Dann fliesst wieder Strom und es geht zurück in die Stadt mit wenigen Leuten, die sich wunderlich vermehren werden auf der Reise.
Der Mann hat Zeit. Er könnte auf diese 8 warten. Es würde nur zwei Kaffees lang dauern, dann wäre sie wieder da. Würde zischend halten, die Leute entlassen, neue Passagiere aufnehmen, wie ein Wal das Plankton.

Der Mann nimmt einen Schluck.

Eine 6 fährt ein.





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Die ewige Freundin

Der Mann trifft seine alte Freundin, seine grösste Liebe je. Was dann mit ihm geschieht, das kennt er bereits sehr gut.
Sein Herz vergrössert sich auf einen Schlag, pocht schneller, härter und ergreifender. Das vierte Schakra meldet sich. Der Magen ist plötzlich da und der Darm wird gespürt wie eine lebendige Schlange. Die Knie hingegen sind aus Gummi, die Unterschenkel auch. Der Mann kontrolliert seinen Stand nicht mehr. Das Zittern strahlt zurück bis in die Hände.
Nur ein paar Sätze kann der Mann mit seiner alten Freundin wechseln. Es ist alles schon gesagt seit Jahren. Wie geht es dir? Gut, und dir? Was machst du so? Aha. Noch ein zwei Sätze. Sie dreht sich schon. Adieu.
Dann wendet sich auch der Mann ab und zwingt sich die nächsten Schritte zu tun. Links. Rechts. Und wieder links. Und rechts. Und links.
Als er sich nochmals umdreht, ist sie schon fort. Sein Herz schlägt härter. Jetzt hat er auch noch Schläfen.

Einen Tag.

Einen Tag lang wird es dauern. Dann wird er schlafen.

Hoffentlich.







New York City, vom Empire State Building aus gesehen. 1994




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Der alte Mann und die See

Der Mann ist krank geworden. Sein Blickfeld ist verengt. Der Kopf schmerzt. Die Achselhöhlen stechen ungehörig - die Lymphdrüsen. Hohes Fieber scheint der Mann keines zu haben, seine Hand an der Stirne bleibt warm.
     Zu sich schauen, sich um sich sorgen, konnte er noch nicht. Er musste einen langen Tag arbeiten, konnte nicht flüchten, musste mit Leuten sitzen, reden, nachdenken, reden, streiten und immer wieder alles von vorne.
     Jetzt ist er endlich zu Hause, doch er ist nicht Herr seiner selbst. Die Krankheit hält ihn gefangen wie eine durchnässte Burka.
     Der Mann funktioniert nur noch wie ein Automat. Ein Prétuval und zwei Aspirin nehmen und dann ins Bett.

     Liegen.

Liegen und sich nicht bewegen. Sich nicht bewegen, tot sein dürfen und nichts denken wollen, vielleicht kommt ja der Schlaf.

Der Schlaf kommt nicht.

In seinem Kopf läuft die Arbeit weiter. Er hört sich selber reden. In forderndem Englisch.
     Das Kopfweh ist noch immer da, aber das Pochen ist zurückgegangen. Die fette Ratte, die in seinem Schädel gefangen ist und rasend an die Wände schlug, scheint endlich aufzugeben.
     Soll er sich drehen?, fragt sich der Mann. Er hat Angst davor. Die Gelenke könnten nur mehr schmerzen.
     „I lived my life eternally“, geht es dem Mann plötzlich durch den Kopf.
     „I lived my life eternally”, wiederholt sich der Satz.
     Der Mann spricht ihn in rhythmischem Sing Sang und wiegt sich dabei in einen unbewussten Vorschlaf.
     “I Lived. My Life. Eternally.“
     Die ruhigen Worte sind wie sanfte Wellen, die den Mann ans andere Ufer führen. Was sie bedeuten, weiss er nicht. Der Sinn des Satzes ist unergründlich wie die See.

See.



Statue of Liberty, von World Trade Center aus gesehen. 1993




















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Sex in Afrika

Der Mann hat Sex gehabt. Unerwartet ist er gekommen - wie meist.
Passiert ist es in der Buchhandlung, in der er jeweils einen Kaffee trinkt. Er hatte ein paar Bücher aus den Gestellen genommen, hatte sich damit in einen Sessel fallen lassen. Als der Kaffee kam, war er bereits in eines der Bücher vertieft  - Strobo, von Airen.
   So müsste ich schreiben können, dachte der Mann. Von wildem Sex erzählen, so oft als möglich, und über Drogen. Alkohol, Pillen, Kokain - und nochmals über Sex.
Wie er das denkt, bemerkt er die Frau nicht, die fragt, ob der Sessel neben ihm noch frei sei. Also erhebt die Frau ihre zierliche Stimme. „Ist noch frei hier?“
   Der Mann schaut auf.
   „Frei?“ Jetzt lächelt die Frau.
   „Ja“, sagt der Mann und nickt. Weil er von der Ansprache überrascht ist, lässt er den Blick auf dem Körper der Frau liegen.
   Die Frau ist wohlgeformt, sportlich knackig. Ihre khakifarbenen Hosen, ihr sandfarbener Pullover eng. Alle Rundungen sind am richtigen Ort. Der ganze Körper ein wildes Tier im Käfig.  Und Lederstiefel trägt die Frau, als führte sie eine Farm in Afrika. 
   Dann blickt der Mann der Frau ins helle Gesicht.
   Die Frau hält seinem Blick stand. „Gefalle ich dir?“, fragt sie ohne Scham.
   „Ja“, sagt der Mann. „Du bist schön.“
   „Wie schön?“, fragt  die Frau verschmitzt und fährt sich durchs lange schwarze Haar, wirft den Kopf nach hinten. „Was genau gefällt dir an mir?“
   „Deine Beine sind lang und doch muskulös. Deine Hüfte ist eng, deine Brüste sind spitzig.“
   Die Frau reckt die Brust hoch und schaut belustigt hinunter auf ihre Brust. Sie lacht laut auf. „Ja, die zwei Kleinen sind ganz schön vorwitzig.“
   „Ich will dich umarmen“, sagt der Mann. Er bewegt sich vorwärts und dann geht alles schnell.
   Er spürt ihren Körper, schmeckt ihr Parfüm - ein Hauch von Rosen, Lemongrass. Dann schleckt er schon ihre Haut, küsst ihren Hals und beginnt - vorsichtig - zu stossen.
   „Oh, ja“, wispert die schöne Frau in seinem Ohr. Er sieht sie nicht. Seine Augen sind geschlossen, er will nur noch stossen. „Ohh“, die Frau. Er stösst und stösst. Vom Schwung wird er vor- und zurückgeschlenkert.
   „He, he Sie?“, hört er und schreckt auf.
   „Sie sind eingeschlafen?“
   „Was?“ Er blickt ins Gesicht der dürren Bedienung.
   „Sie sind eingeschlafen. Sie haben etwas gestöhnt.“ Die Bohnenstange lässt seine Schulter los, richtet sich wieder auf.
   „Oh, Entschuldigung“, sagt der Mann. „Ich habe geträumt.“ Dann blickt er schnell verstohlen um sich. Die schöne Frau sitzt immer noch da. Sie schaut in ihr Buch. Lächelt sie?
   Nein.
   Sie fährt sich nur über die Oberlippe.

Afrika.




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Hank Bukowski zu Besuch

Der Mann hat eine kleine Pause. Die verbringt er mit Bukowski. Dieses Mal sind es Videos vom Poeten aus L.A, die er anschauen will. Der Mann sucht ein intelligentes Gespräch mit seinem Liebling. Auf dem Netz gibt es aber nur Schrott. Bukowski in einer französischen Fernsehsendung, der Moderator stellt dumme Fragen. Oder Bukowski auf einer Schaluppe im Hamburger Hafen, er fotographiert. Sonst nur noch ein künstlerisch wertvolles Video in dem Sätze aus einem Gedicht vom Säufer aus L.A. über den Bildschirm schwirren.
Der Mann ist enttäuscht. Er hatte ein paar interessante Interviews mit Buk gesucht. Vielleicht hätte er etwas darüber lernen können, wie man interessante Geschichten schreibt. Aber die Videos zeigen nur einen Alten, der immer lächelt und doch nichts sagt. So hatte er sich den Schriftsteller nicht vorgestellt gehabt. Einsilbig, mehr nachfragend, als irgendetwas Schlaues von sich gebend.
Vielleicht war das ganze Genie von Bukowski doch nur eine einzige Show?, denkt der Mann. Aber das denkt er nicht lange. Bukowski ist ein genialer Geschichtenerzähler, ein Poet des Lebens. Der Mann nickt unbewusst sein eigenes Statement ab.
"Tja, wenn du tatsächlich glaubst, ich sei ein grosser Schriftsteller, dann wird es wohl stimmen", sagt Bukowski.
Der Mann hebt den Kopf hin zu Buk. "Ich finde das wirklich, Buk. Du bist ein einzigartig guter Geschichtenerzähler."
"Das ist nett von dir zu sagen. Aber gib mir mal lieber die Flasche rüber."
"Welche Flasche?"
"Die Flasche Whiskey, die du in deinem Schrank hast."
"Ich habe keinen Whiskey im Haus," sagt der Mann und überlegt. "Vielleicht gibt es noch eine Flasche Weisswein in der Küche."
"Hast du Bier?"
"Kein Bier, sorry."
"Dann lass gut sein, Sternlein. Ich verschwinde."
"Wo willst du hin?"
"Bier holen. Vielleicht bleib ich auch bei einer Nutte hängen, sofern es genug Arsch gibt."
Bukowski zieht am Mann vorbei, zeigt ihm nur seinen Rücken, die speckigen halblangen Haare. Dann ist er weg.
Enttäuscht geht der Mann in seine Küche. Eine einsame Halbliter Flasche Kochwein schaut ihn aus dem Kühlschrank an. Seit ewigen Zeiten steht diese Flasche dort. Es gab noch keinen Grund sie zu öffnen. 
"Du Riesenarschloch", sagt die Flasche.

Charles Bukowski und der Sinn des Lebens

Der Mann ist schwer müde. Die Augen sind dicht mit Vorhängeschloss, die Sehnen sind zu Eiszapfen kristallisiert. Mit krummem Rücken sitzt er in der Küche. 10 Liter Kaffee würden ihn nicht wecken können. Dennoch ist er früher auf als sonst. Es gibt etwas, das ihn in die Welt hinein zieht.

Bukowski.

Der Mann liest ihn wieder zum x-ten Mal. Seine Geschichten ziehen ihn magisch an. So will er einmal schreiben können. Einfach erzählen was ist und es ist spannend.
Der Mann liest die Bücher vom Alkoholkranken mit dem Aknegesicht wie im Rausch. Er versucht zu verstehen, wie das geht. Einen Dialog schreiben, der einen den Atem anhalten lässt. Eine Szene entwickeln, nach der die Existentialisten an das ewige Leben glauben.
Warum muss der Mann soviel von Bukowsi lesen?
Weil er einen Blog zu schreiben hat.
Zwei Leser hat der Mann schon.

Zwei Leser!

Es sind zwei Frauen, natürlich. Immer sind es Frauen, die sich für die dunklen Männer interessieren. Bei Bukowski war das auch so. Also ist noch nicht alles verloren. Der Mann ist da und es gibt noch andere in der Welt. Und darum geht es ja. Den Anderen.
„Es geht immer um den Anderen“, sagt Buber.
„Ja, dieses Statement von dir fand ich immer spannend.“
„Es geht immer um den Anderen“, wiederholt Buber.
„Ja, Martin, ich hab’s begriffen.“
„Wirklich?“
„Ja, mein Gott, ich versteh’ das schon - irgendwie.“
„Hhm“, misstraut Buber dem Mann, der ihn erinnert hat.
Auch der misstraut sich selber. Letztlich geht es doch immer um einen selber, kann er nicht anders denken. Man wird in diese Welt geworfen. Auswählen kann man sie nicht. Dann muss man leben. Man simuliert einen Sinn. Am Ende holt einen die Existenz ein  - und der Tod.
„Und in der Zwischenzeit?“, schiebt sich Buber wieder in die Gedanken des Mannes.
In der Zwischenzeit?
In der Zwischenzeit schreibe ich Geschichten für meine Leser.
Für meine zwei Leser.

Zwei Leser!



"Gefallen dir diese Geschichten? Dann verlinke dich mit diesem Blog und folge ihm. Bitte sende diesen Link auch an weitere Freunde. Merci Beaucoup."

Marianne Engelwesen und AnaSzui

Der Mann ist ziemlich geknickt - das Leben halt. Er kommt am Morgen kaum auf die Beine, dreht sich noch und noch.
"Schreib doch einen Blog", rät ein Freund.
"Warum?"
"Darum!"
Also schreibt er einen Blog. Was kann es schaden? Der Mann hat immer gern geschrieben.
Tatsächlich gelingt der Anfang famos. Der Mann hat ein paar alte Geschichten gefunden. Die tippt er ein.
Nun steht er ein wenig schneller auf am Morgen, sitzt oft im Café und schreibt und schreibt.
Doch die Melancholie bleibt. Seine Geschichten sind superschöne, wunderbare Literatur - aber, nun ja, sie sind durchaus ein wenig düster.
Das beschäftigt den Mann. Seit Stunden sitzt er nun schon im Café und kommt zu nichts. Wozu das alles?, fragt er sich. Wer will mein Gemüse schon lesen?
Auf einmal blinkt der Notebook-Monitor.

"1 Leser: Marianne."

Der Mann reisst die Augen auf, ruckt im Stuhl hoch. Hab-Acht-Stellung bei kaltem Tee.
Dann hat er endlich begriffen. Ein Mensch interessiert sich für seine Texte. Ein Mensch!
Glücklich sinkt der Mann wieder ein wenig ein. Nun lächelt er. Er atmet tief ein. Er atmet tief aus.

Marianne!

Glück!

Leben!


Zukunft!

Melancholie im Bad

Der Mann liegt im überwarmen Badewasser bei sich zu Hause im Bad. Er hat die Augenlider gesenkt, blickt an sich hinunter. Er sieht zwei Penisse, weil sein erschöpfter Blick nicht mehr fokussieren kann und die Augen in die Unendlichkeit schauen. Die Penisse liegen knapp unter Wasser, bewegen sich im Gleichklang, träge und doch ein wenig zackig. Ihr Schwappen erinnert den Mann an eine Boje im Zürichsee, zu der er einmal hinausgeschwommen ist. Die gelbe Metallboje war leicht beschädigt gewesen. Ein wenig Luft war entwichen. Sie konnte sich nicht mehr über Wasser halten. Vom Wellengang bewegt schwankte die gelbe Boje hin und her, tanzend, als hätte sie keinen eigenen Willen mehr, gehorchte nur willenlos den äusseren Kräften. Bald würde sie völlig untergehen.
Der Mann erinnert sich auch, wie er wieder zurückgeschwommen war, wie er kämpfen musste mit den hohen Wellen, die ein Dampfschiff ihm entgegengestossen hatte. Auf der Liegewiese in der Badeanstalt war er wie tot hingelegen, war eingeschlafen in der brütenden Sonne, weil er so müde gewesen war.
Jetzt ist er auch müde. Das heisse Wasser nimmt ihm jeglichen Antrieb. Seine Arme liegen im Wasser, die Hände auf dem Unterbauch, wie tote Fische auf Grund. Nur die Knie schauen aus dem Wasser. Zwei flache Atolle. Leichte Beute für hohe Wellen.
Er denkt. So bringen sich manchmal Leute um. Liegen ins heisswarme Wasser. Schlitzen sich einfach die Adern auf und lassen das Blut herauslaufen, bis nichts mehr drin ist im Körper, bis das Blut und das Wasser gleichmässig vermischt sind.
Diese Prozedur will sich der Mann nicht vorstellen. Einerseits sind da die Schmerzen. Sich absichtlich schneiden, das kann er sich nicht vorstellen. Aber noch vielmehr ist ihm unbegreiflich, dass man willentlich seinen Körper der Welt öffnet. Man verletzt seine Integrität ganz bewusst, schneidet eine Pforte in eine feste Mauer und lässt das Innere und das Aeussere eins werden.
Das Leben diffundieren lassen.
Das könnte ich nie tun, denkt der Mann und denkt zugleich an das Sich Erhängen. Damit hätte er weniger Probleme. Das Seil mag einschneiden, nun gut. Aber es bleibt eine humane Art sich zu verabschieden, weil man als Mensch ganz bleibt. Das Seil verstärkt sogar noch die Differenz zwischen Welt und Körper. Man stärkt das Sich und verabschiedet sich von Aussen indem man die Grenze noch verstärkt. Kein Austausch mehr mit der Welt. Sich gänzlich abtrennen von der Welt. Das macht dem Mann Sinn.
Obwohl, denkt der Mann, es kann geschehen, dass man sich dabei entleert. Aber auch das macht ihm Sinn. Der dumme Abfall wird ausgeschieden. Was der Welt gehört, wird der Welt zurückgegeben. Zurück bleibt ein reiner Körper, abgeschieden von der Welt um sich. Im Reinen mit sich.
Leer.
Dann denkt der Mann eine Zeit lang nichts. Er ist müde. Er ist erschöpft. Einmal hebt er die Hand, plätschert im Wasser. Dann lässt er sich wieder fallen, rutscht ein wenig tiefer, geht doch nicht unter, weil das Wasser trägt.
Dann denkt er wieder nichts. Irgendwann spritzt er sich mit beiden Händen Wasser ins Gesicht. Das weckt ihm kaum. Er reibt die Augen.
Dann hat er plötzlich Durst.
Er dreht den Kaltwasserhahn auf, schöpft sich kühles Wasser und trinkt freudig. Dann spritzt er sich spontan das kühle Nass ins Gesicht. Jetzt wird er wacher. Wie gut das tut.
Dann steht er auf und bekommt sogleich kalt.
Er trocknet sich mit einem Tuch.
Dann zieht er sich wieder an.
Dann arbeitet er nochmals ein paar Stunden weiter.

Mercedes Benz

Der Mann ist am Telefon überfallen worden. Es stehe schlimm um sein Auto. Die Bremsen. Tja, das könne ins Auge gehen.
"Aber ich fahre doch Mercedes", wundert sich der Mann, der am Tag zuvor sein Auto zum grossen Service gebracht hatte. An einem so teuren Auto können doch die Bremsen nicht so rasch kaputtgehen.
"Nicht die Bremsen, die Bremsscheiben", korrigiert der Chefmechaniker. "Die sind nicht mehr wirklich gut." 
"Aber ich fahre doch so wenig."
"Eben. Sie fahren wenig und die Bremsscheiben haben Rost."
Das tönt schlimm für den Mann. Nur zögerlich versucht er sich zu wehren und weiss doch, dass er sich in sein Schicksal fügen muss. Die Bremsscheiben sind zu ersetzen. Das kostet eine Stange Geld. Aber Sicherheit geht vor Geld. Sicherheit ist alles, denkt der Mann. Er ist Schweizer eben.
"Die Batterie ist auch fast hinüber."
Der Mann hört: Die Batterie ist hinüber.
"Er könnte im Winter nicht mehr anspringen."
Der Mann hört: Im Winter springt mein Auto nicht mehr an.
"Also machen wir das auch gleich," sagt der Chefmechaniker.
Später kommt der Mann zur Besinnung. Er fühlt sich über das Ohr gehauen. Er erinnert sich, dass er doch erst vor wenigen Wochen das Auto vorführen musste. Es war alles in Ordnung - Bremsleistung und alles.
Nachdem er noch mit einem Freund darüber geredet hat, steigt die Wut. Die haben mich übers Ohr gehauen. Nur 40'000 Kilometer und schon neue Bremsscheiben. Das kann doch nicht sein. Und die Batterie. Das war auch eine Gaunerei. 
Aber sie machen es geschickt, ärgert sich der Mann. Machen einem ziemlich Angst. "Die Bremsen könnten entscheidend geschwächt sein." Könnten! Natürlich sagen sie nicht, dass jetzt noch alles gut ist.
Verärgert ruft er die Garage nochmals an. Will den Chef sprechen. Macht Theater.
Natürlich ist alles umsonst. Auch der Chef buttert ihn weg. Die Taktik ist die Gleiche. Mit Fachwissen Angst machen - und mit Rost und der Furcht vor einem kalten Winter und einer toten Batterie.
Der Mann lässt durchblicken, dass er diesen Typen nicht wirklich traut, dass er das alles unnötige Reparaturen findet. Der Chef hört schon gar nicht mehr hin.
Später, als er sein Auto abholt, sind die Leute dort ziemlich arrogant und kühl und abweisend und lächeln mit schiefem Mund, als er abfährt. Auf der Autobahn bekommt er plötzlich einen Schweissausbruch. Was, wenn diese Typen mein Auto präpariert haben aus Rache? Ein paar kleine Säuretropfen auf die Bremsleitung getropft haben, ein paar Schrauben ein wenig gelockert ? Und das nur, weil ich ihnen nicht vertraute.
Mein Wagen ist nicht mehr sicher, denkt der Mann. Das könnte arg ins Auge gehen.

Schöne Frau

Der Mann sitzt in seinem gewohnten Café und trinkt seinen üblichen Kaffee. Der Kaffee ist bitter - wie immer.
Der Mann schaut in die Runde. Er erblickt eine blonde Frau, sie ist ausserordentlich hübsch. Sogleich zuckt er zusammen, blickt rasch zur Seite.
Warum hat er weggeblickt? Er ist erschrocken.
Die Frau  - er schaut nochmals kurz hin - ist bezaubernd, durch und durch. Vielleicht 30 Jahre alt, die Haut rein wie in der Werbung, die Lippen rot, doch nicht von Lippenstift. Sie sind erleuchtet von der Jugend und vom erfüllten Leben.
Die Figur hat der Mann noch nicht einmal aufgenommen. Er hat sich gezwunden wegzuschauen, weil er instinktiv gewusst hat, dass diese Frau seiner alten Freundin zu sehr gleicht. Auch sie hatte kurze Haare, helle wache Augen.
Der Mann hat nur wenig gesehen, doch bereits zuviel. Alte Gefühle kochen wieder auf. Der Mann zwingt seinen Blick fort, will nicht mehr sehen.

Und doch.  Der Mann muss wieder sehen.

Er blickt hin.

Die Frau schiebt sich grosse Stücke eines Kuchens mit Schlagrahm in den Mund. Sie isst vehement, fast gierig. Lebensfroh.
Der Mann will sehen und doch nicht. Er weiss, er könnte sich verlieben, hat sich ja schon verliebt. Er weiss, er könnte sich verletzen.
Ein rascher Seitenblick auf die Beine.
Schöne lange Beine.
Feste sportliche Oberschenkel. Genau so muss es sein.
Jetzt steht die Frau sogar auf, geht vor dem Mann vorbei, holt sich eine Zeitung, spaziert wieder zurück.
Weil sie so vorbeigeht, getraut sich der Mann ein wenig länger schauen.
Die Grösse stimmt. Wie bei seiner alten Freundin.
Die Kleidung stimmt. Wie bei seiner alten Freundin.
Rasch zwingt sich der Mann die Tasse zu heben. Er will nicht mehr sehen, keine alten neuen Gefühle mehr entwickeln.
Es beginnt im Sturm und endet doch nur im Streit, denkt er. Lieber gar nicht erst die Segel setzen.
Der Mann zwingt sich wegzuschauen. Er beugt sich vor, greift die Tasse. Er nimmt einen Schluck.
Der Kaffee ist bitter.

Wie immer.

Kaffeetrinker und Teetrinker

Der Mann sitzt im grössten Kaffeehaus der Stadt. Es ist eine Lagerhalle. Sie ist ausgehölt und kaum neu gestrichen, doch voll mit Leuten. Er möchte in Ruhe seinen Kaffee trinken. Das möchten alle anderen auch. Nur die Kinder nicht. Die rasen um die Stühle, kreischen, platschen hin und schreien.
Den Müttern ist es egal. Dem Mann nicht. Er nervt sich über diese Freiheit der Kinder, die tun und lassen, was ihnen gerade in den Sinn kommt. Einer der Zwerge schiebt einen Stuhl übers Parkett. Er ist winzig und kann kaum gehen, aber er hält sich ja an der Stuhllehne, die er vorwärts schiebt. Das Kind hört das Gerumpel nicht, der Mann schon. Er versucht trotzdem Ruhe zu finden. Führt das Tässchen an den Mund, macht die Augen zu.
Jetzt ist der Lärm nur intensiver. Es ist ein Gebrabbel, Geplärr, Geschrei, Gemurmel. Nur ein einziges Kind ist leise. Es nuckelt still vergnügt an seiner Teeflasche, fast so gross wie sein eigener Kopf. Jetzt schaut das Kind den Mann an. Sein Blick haftet an ihm wie eine Klette an einem Kleid. Während es breitbeinig da steht und schaut, saugt es an der Flasche, trinkt und trinkt.
"Salü", grüsst der Mann das Kind. Das schaut nur weiter, kann nur schlucken.
"Zum Wohl", sagt der Mann und hebt sein Tässchen.
Das Kind dreht sich um, als hätte es den Mann nie gegeben, sucht mit den Augen irgendwo anders Halt, wackelt davon, als wäre es besoffen.
Na, dann halt nicht, denkt der Mann.
Er setzt sein Tässchen wieder ab.
Der Kaffee schmeckt nicht mehr.

Vielleicht sollte er auch Tee trinken.

Zwei Stunden sich sein

Der Mann ist spät aufgestanden. Die Nacht war hart. Geträumt hat er nicht.
Der Kaffee, den er sich macht, ist kaum schwarz. Die Maschine ist kaputt.
Also schliesst er die Augen vor Müdigkeit wieder, wie er in der kalten Küche sitzt.
Er denkt nach.
Was soll ich tun an diesem Tag?
Es fällt ihm nichts Gescheites ein. Die Welt draussen ist eisig, die Tage so kurz wie nie. Dennoch bleibt viel zuviel Zeit für Fragen.
Der Mann atmet tief ein, reibt sich die Augen. Dann atmet er tief aus. Nochmals reiben.
Schliesslich geht er unter die Dusche, wäscht sich die Nacht von der Haut.
Die milde Seife riecht nach Lemongrass. Das weckt ein wenig.
Dann kleidet er sich an, mit dem was halt so da ist an Jacke, Hemd und Hose.
Dann geht er ohne zu schauen, ob alles in Ordnung ist, in die Welt.
Am Abend wird er müde nach Hause kommen, aber da ist draussen schon dunkel, der Tag ist abgeschlossen.
Dann muss er nicht mehr denken, was er hätte tun können. Dann kann er endlich sein, weiss er.
Sich selbst sein.
Sich sein.
Ja. Endlich sein.
Deshalb lebt er noch.



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